Dorferneuerung Waldthurn
Eine Kommune, die Brücken baut
(2. Januar 2023) Waldthurn – Die Oberpfälzer Marktgemeinde Waldthurn (Landkreis Neustadt an der Waldnaab) hat als einzige bayerische Kommune am Wettbewerb um den Europäischen Dorferneuerungspreis 2022 der Europäischen ARGE Landentwicklung und Dorferneuerung teilgenommen. Die Fachjury hat der Kommune kurz vor Weihnachten den „Europäischen Dorferneuerungspreis in Silber für besondere Leistungen in zahlreichen Bereichen der Dorfentwicklung“ zuerkannt. Das Amt für Ländliche Entwicklung (ALE) Oberpfalz ist der Kommune seit vielen Jahren partnerschaftlich durch zahlreiche Projekte verbunden und hat auch bei der Erstellung der Wettbewerbsunterlagen unterstützend und beratend maßgeblich mitgewirkt.
Die Bereisung Waldthurns durch die beiden Jury-Mitglieder Dipl.-Ing. Nadja Häupl, Professorin für Städtebau an der Hochschule Anhalt in Dessau, sowie Dipl.-Ing. Robert Krasser vom Salzburger Institut für Raumordnung und Wohnen (SIR) hat am 13. Oktober stattgefunden. Der Preis, der seit 1990 vergeben wird, ist unter dem diesjährigen Motto „Brücken bauen“ ausgelobt worden. Damit wollen die Initiatoren der Tatsache Rechnung tragen, dass der Umgang mit den großen Herausforderungen der Zeit – Klimawandel, Ressourcenknappheit, digitale Transformation oder Pandemie – ein enormes Konfliktpotenzial besitzt und die Gesellschaft tief zu spalten droht. In Europas Dörfern komme als weiteres Spannungsfeld hinzu, dass ihre Bevölkerung zunehmend heterogener werde, was zu unterschiedlichen, oft auch gegensätzlichen Ansprüchen an ihren Lebensraum führe. „Das Motto soll ein Signal dafür sein, Wege zu beschreiten, die zueinander führen, ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren. Demgemäß wirft es einen besonderen Fokus auf jene Gemeinwesen, die den Dialog fördern, das Verbindende suchen und sozial, ökonomisch und ökologisch verträgliche Lösungen für die mannigfachen Aufgaben finden, die ihnen unsere Zeit und ihr spezifischer Raum stellen“, so der offizielle Ausschreibungstext.
Probleme aktiv angegangen
Die Ausgangslage von Waldthurn vor zwei Jahrzehnten ähnelte vielen anderen nordostbayerischen Kommunen im ländlichen Raum: Während die bayerischen Ballungsgebiete aus den Nähten platzen, bluten kleine Gemeinden. Sinkende Geburtenzahlen, Abwanderung, wenig Einkaufsmöglichkeiten, sanierungsbedürftige Gebäude und Wassernetze – nur einige Herausforderungen, vor denen die Kommune und ihre Bewohner:innen vor 20 Jahren standen. Doch Probleme wurden nicht ausgesessen oder ignoriert, sondern aktiv angegangen: Vor zwei Jahrzehnten begann Waldthurn, die Dorferneuerung in verschiedenen Ortsteilen erfolgreich umzusetzen – 2011 ging die Marktgemeinde die Weiterentwicklung dann systematisch an. Sie setzte dabei auf die vom Amt für Ländliche Entwicklung (ALE) Oberpfalz angebotenen Instrumente Dorferneuerung, Gemeindeentwicklung, Flurneuordnung und Integrierte Ländliche Entwicklung (ILE). Was sich hierbei getan hat und wie hier mehr als die rein sprichwörtlichen Brücken gebaut wurden, konnten die Jurymitglieder bei ihrer vierstündigen Bereisung nicht nur mit eigenen Augen sehen. Waldthurner Brückenbauer:innen präsentierten und erläuterten die positive Entwicklung und machten sie für die Jury erlebbar:
Brücken bauen gehört in Waldthurn zum Alltag. Ich bin stolz, seit 20 Jahren Bürgermeister einer Marktgemeinde zu sein, in der die Menschen jeden Tag Brücken bauen und mit Herzblut und Liebe ihre Heimat gestalten. Die Dorferneuerung und Initiativen wie „Innen statt Außen“ haben eine Motivation für ehrenamtliches Engagement und Eigenleistungen nach Waldthurn gebracht, die ich mir niemals erträumt hätte. Dieser Ansporn, die eigene Heimat so zu gestalten und weiterzuentwickeln, hält bei den Menschen in Waldthurn bereits seit fast zwei Jahrzehnten an. Sie verbessern dadurch nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer Familie, Freunde, Nachbarn und auch das von „Fremden“ oder „Zugezogenen“. „Neu-Waldthurnerinnen und -Waldthurner“ verspüren hier in kürzester Zeit echtes Heimatgefühl, Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Das geht aber nur mit einer Vielzahl an Brücken: Soziale, ökonomische, kulturelle, ökologische Brücken. Brücken zwischen Alt und Jung, zwischen Markt und Land, zwischen kirchlicher und weltlicher Gemeinde, Ost und West, Bestehendem und Neuem, Historischem und Zukunftsträchtigem…
In den 1970er und 1980er Jahren gab es in unserer Marktgemeinde noch 15 Lebensmittelgeschäfte, sieben Metzgereien, vier Bäckereien, 23 Gasthäuser und drei Tankstellen. Doch nach und nach schloss ein Großteil der Geschäfte die Pforten. Am 23. Oktober 2011 machte auch die letzte Schlecker-Filiale dicht – damit gab es keine Möglichkeit mehr, vor Ort einzukaufen. Auch der Versuch, an dieser Stelle ein neues Geschäft zu eröffnen, scheiterte. Deshalb nahmen es die Waldthurnerinnen und Waldthurner selbst in die Hand. Am 23. Juni 2015 gründeten sie den Marktladen Waldthurn, über 140 Bürgerinnen und Bürger kauften Geschäftsanteile. Stammkapital: 35.000 Euro. Das Amt für Ländliche Entwicklung Oberpfalz förderte den Marktladen zusätzlich mit 26.600 Euro. 2018 zogen wir in ein neues Gebäude, mit größeren Räumen und mehr Auswahl. 2020 zeichnete die Vereinigung der Bürger und Dorfläden in Deutschland unseren Laden mit vier, ein Jahr darauf mit fünf Sternen aus. Der Weg bis dahin war nicht immer einfach. Aber es war alle Mühe wert.
Von Köln nach Waldthurn sind es 452 Kilometer Luftlinie. Ich habe lange überlegt, ob ich in die Oberpfalz zurückgehen soll. Heute möchte ich aus Waldthurn nicht mehr weg. In Köln hatte ich als Physiotherapeut eine Führungsposition in einem großen Reha-Unternehmen. So was gibt man nicht leichtfertig auf! Doch die Idee war geboren – und nahm in meinem Kopf mehr und mehr Gestalt an. Es sollte keine Wald- und Wiesenpraxis werden. Sondern ein großes, modernes Physio-Zentrum, mit lichtdurchfluteten Behandlungsräumen, mehreren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und einem angenehmen Ambiente. Vor vier Jahren eröffnete ich genau diese Praxis in Waldthurn. Dank der „Innen statt Außen“- Initiative konnte mir der Markt Waldthurn ideale Räume in einer perfekten Lage vermieten – der Arzt vor Ort vermittelte erste Patienten. Die Praxis wuchs von 60 auf 400 Quadratmetern, die Zahl der Physiotherapeuten von eins auf sechs. 2020 baute ich mir ein zweites Standbein auf und eröffnete ein Fitness-Studio.
Alkohol macht einsam. Doch die verbindende Kraft einer Dorfgemeinschaft kann im Kampf gegen die Sucht helfen. Heute weiß ich, dass es funktioniert. Doch der Anfang war nicht leicht. „Ein Reha-Zentrum für Suchtkranke. Mitten in Waldthurn! Was kommen da nur für Menschen zu uns?“ So fielen teils die Reaktionen aus, als wir unsere Einrichtung vor 24 Jahren eröffneten. Manche Waldthurnerinnen und Waldthurner waren unsicher, skeptisch oder ängstlich. Das hat sich um 180 Grad gedreht. Die Menschen, die wir betreuen, sind aus verschiedenen Gründen aus dem Leben gefallen. Bei uns erhalten sie Struktur, Verlässlichkeit, Bindung und ein Stück Heimat. Unsere Bewohnerinnen und Bewohner unterstützen z.B. auch ältere Menschen bei der Gartenarbeit, arbeiten im Dorfladen, im Winterdienst, in ortsansässigen Betrieben und helfen bei der Pflege von Gemeindeanlagen. Selbstwert und Selbstbewusstsein werden gesteigert, da hilfesuchende
Menschen zu Helfern werden. Zurzeit planen wir ein ambulant betreutes Pilotprojekt für alleinerziehende Frauen und Schwangere mit Suchterkrankung zentral am Waldthurner Marktplatz.
Ich bin im Ortsteil Albersrieth aufgewachsen und habe als Kind Anfang der 1990er selbst mitbekommen, wie unsere Dorfgemeinschaft in Eigenleistung eine Pflanzenkläranlage gebaut hat. Dieser Zusammenhalt hat mich stark geprägt, weil ich gesehen habe, was man gemeinsam alles schaffen kann. Heute bin ich Geschäftsführer eines Herstellers für Blockheizkraftwerke und beruflich viel unterwegs, aber mein privater Lebensmittelpunkt ist nach wie vor Albersrieth. Ich freue mich, Vorsitzender unseres Dorfrats sein zu dürfen. In unserem Verein „Dorfgemeinschaft Albersrieth e.V.“ sind alle Haushalte vertreten, hier laufen alle Aktionen zusammen. Gemeinsam hat unser 200-Seelen-Ort in den vergangenen
Jahrzehnten mit der Dorferneuerung und darüber hinaus viel vorangebracht. Der Mut und der Weitblick unserer Dorfbewohnerinnen und -bewohner sich an Neues heranzutrauen, hat sich längst ausgezahlt. So sind wir mit einer Versorgungsquote mit Strom von 650 Prozent komplett und mit Biowärme von mehr als 85 Prozent fast komplett unabhängig von fossilen Energien und dürfen uns seit 2012 „Bioenergiedorf“ nennen.
Nirgends bin ich lieber Heimatpfleger als hier. Seit 1966 ist Waldthurn meine Heimat. Und fast genauso lang erforsche ich die Geschichte und die Geschichten rund um den Fahrenberg und Waldthurn. Mir geht es nicht darum, das Kulturerbe hinter Glas zu sperren oder zwischen zwei Aktendeckel zu pressen. Kultur bewahren heißt für mich, sie lebendig erhalten. Mit den anderen Mitgliedern im Heimatkundlichen Arbeitskreis will ich den Menschen unsere Geschichte, Musik oder Kunst nahebringen. Ich schreibe Bücher über Erzählungen und Sagen unserer Heimat, damit die Menschen sie lesen und weitererzählen. Ich beschäftige mich mit der Waldthurner Mundart, damit die Sprichwörter, Lebensweisheiten oder Wetterregeln nicht in Vergessenheit geraten. Ich komponiere Lieder über den Fahrenberg und meine Heimat. Besonders angetan hat es mir der Fahrenberg. Hier kommt Vergangenheit und Gegenwart zusammen, hier ist und bleibt die Waldthurner Kultur lebendig.
Hauptansatzpunkt für das Engagement vor Ort war die Revitalisierung des Marktplatzes. Zentrale Maßnahmen waren die Sanierung und der Umbau mehrerer leerstehender Anwesen – diese wurden über das Programm „Innen statt Außen“ vom Amt für Ländliche Entwicklung Oberpfalz fachlich begleitet und finanziell unterstützt.
Mit der Beseitigung der Leerstände wurde die Marktgemeinde attraktiver. Es entstanden moderne, günstige Wohnungen für Waldthurner:innen und Neubürger:innen. Vor allem junge Familien oder Singles profitieren davon. Darüber hinaus gelang es, mehrere Dienstleistungen und Geschäfte in der Ortsmitte anzusiedeln. Dazu gehören die Praxis für Physiotherapie mit Fitness-Studio oder das Gesundheitszentrum mit seniorengerechten Wohnungen.
Unabhängig von der Innenentwicklung gelang es, die medizinische Versorgung, die Kinderbetreuung, die schulische Bildung und die Grundversorgung der Bürger:innen sicherzustellen. Besonders stolz sind die Waldthurner:innen auf den Marktladen, der als Betreibergenossenschaft gegründet wurde. Heute wird der Laden im ehemaligen Sparkassengebäude kostendeckend betrieben. 2021 zeichnete der Vereinigung der Bürger- und Dorfläden in Deutschland e.V. den Marktladen mit fünf Sternen aus. Zu dem reichhaltigen Angebot im Ortskern gesellt sich ein beachtlicher Zuwachs an Sport- und Freizeitangeboten sowie kultureller Veranstaltungen. Waldthurn entwickelte sich damit zu einem attraktiven Lebensort für Alt und Jung. Das bestätigen auch die Einwohner:innen und Geburtenzahlen, die sich gegenüber vergleichbaren Gemeinden sehr positiv entwickeln.
Waldthurn kennt keinen Stillstand
Der Markt Waldthurn kann sich auf seine Bürger:innen verlassen – viele Maßnahmen hätten ohne deren Eigeninitiative und Unterstützung nicht umgesetzt werden können. Dieser Gemeinsinn spiegelt sich in deren Engagement in über 40 Vereinen wider oder dem Umgang mit Inklusion und Integration. Zum Beispiel stellt Waldthurn Geflüchteten Wohnungen zur Verfügung oder lässt suchtkranke Bewohner:innen des Reha-Zentrums an der Gemeinschaft teilhaben. Waldthurn steht vor den gleichen Problemen wie viele andere Gemeinden auch: Bereitstellung von Wohnraum, Digitalisierung oder Modernisierung der Infrastruktur. Dazu kommen globale Herausforderungen wie Klimawandel und der Ausbau regenerativer Energien. Die Marktgemeinde hat in den Bereichen Naturschutz und Biodiversität schon viel getan. Sie plant, in den nächsten Jahren energieautark zu werden. Darüber hinaus soll das Angebot an Sport-, Freizeit- und Einkaufsmöglichkeiten wachsen – auch abwechslungsreiche kulturelle Veranstaltungen sind geplant. Damit wird Waldthurn ein liebens- und lebenswerter Ort bleiben – für alle Menschen.
Die Waldthurner Brückenbauer präsentierten der Jury vier Stunden lang die positiven Entwicklungen in der Marktgemeinde.
Holger Stiegler, ALE Oberpfalz
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